Verhungern für den Erfolg

| 28. Januar 2011 | 19 Comments

„Und plötzlich war da diese Stimme in meinem Kopf, die mir gesagt hat, dass ich nichts mehr essen darf. ‚Je weniger Du isst, desto besser wirst Du‘, hat sie gesagt. Und dass ich niemals dünn genug sein werde.“

Dass die junge Sportakrobatin an Magersucht erkrankt war, realisierte ihr Umfeld viel zu spät, sie selbst vielleicht erst als allerletzte, obwohl die vergangenen Wochen und Monate die schlimmsten ihres Lebens waren. Wie schlimm, vermag man sich als Außenstehender gar nicht vorzustellen. Als sie endlich den Arzt aufsuchte, wog die damals 14-Jährige gerade mal 30 Kilo bei 1,50 Meter Körpergröße. Der Doktor schickte sie sofort in stationäre Behandlung. Diese sollte drei Monate dauern. „Wenn man diese Stimme einmal in seinem Kopf hat, wird man sie nie wieder ganz los. In der Therapie lernt man, mit ihr klarzukommen, sie zu kontrollieren und sich ihr nicht mehr völlig willenlos zu überlassen. Dann wird sie auch ein bisschen leiser.“

Bei Magersucht denkt man zunächst an Models. Aber auch im Leistungssport ist diese Erkrankung längst kein neues Thema mehr: Die Kunstturner beklagten bereits 1994 einen prominenten Trauerfall: Die frühere amerikanische Meisterin Christy Henrich starb im Alter von nur 22 Jahren an multiplem Organversagen als Folge ihrer Essstörung. Sie wog zum Zeitpunkt ihres Todes 29 kg.

Bei der klassischen Magersucht (Anorexia nervosa) handelt es sich um eine psychische Erkrankung: Die Selbstwahrnehmung ist verzerrt und die (meist weiblichen) Betroffenen hungern selbst bei größtem Untergewicht immer weiter, weil sie sich als „zu dick“ empfinden. Im Unterschied dazu handelt es sich bei der Sport-Magersucht (Anorexia athletica) zunächst nicht um eine psychische Störung: Die Betroffenen reduzieren ihr Körpergewicht aus rein leistungssportlichen Beweggründen, weil sie sich dadurch mehr Erfolg erhoffen. Die gesundheitlichen Folgen und körperlichen Schäden sind jedoch dieselben. Außerdem besteht größte Gefahr, in die klassische Magersucht als psychische Krankheit abzudriften und die Kontrolle über die Gewichtsreduktion zu verlieren. So erging es der eingangs zitierten Sportakrobatin.

Es gibt Sportarten, bei denen das Risiko besonders groß ist, dass sich eine Essstörung wie Magersucht ausbildet. Die Sportakrobatik gehört dazu, sie weist eine Reihe einschlägiger Kriterien auf: Der Oberpartner muss getragen und geworfen werden, ein geringes Körpergewicht hat aus biomechanischer Sicht Vorteile. Die Kampfrichter bewerten die Ästhetik. Die körperbetonten Anzüge kaschieren rein gar nichts. Und zu guter Letzt sind Leistungssportakrobaten oft noch sehr jung, gerade die Pubertät ist aber die sensibelste Phase zum Ausbilden einer Essstörung.

Wie kommt es zu einer Essstörung?

Auslöser für Magersucht bei einer jungen Sportakrobatin gibt es viele: Der böse Trainer, der Diäten verordnet und eine schwarze Liste aufstellt, die festschreibt, was man alles nicht essen darf. Die Partnerin, die es gerne etwas leichter hätte und ständig blöde Bemerkungen über Essgewohnheiten, Figur oder Gewicht macht. Die Eltern und Freunde, die Erfolge feiern wollen. Oftmals löst auch schlichtweg der eigene Ehrgeiz die Essstörung aus, wenn die Betroffene sich selbst zu sehr unter (Leistungs-)Druck setzt.

Auch die Waage im Training kann Magersucht auslösen, wenn die Ergebnisse des Wiegens als Druckmittel gegen die Sportler verwendet werden. Dabei müsste die regelmäßige Überprüfung des Gewichts eigentlich Sicherheit geben: Schließlich sieht man da schwarz auf weiß, wenn jemand immer weniger wird und in die roten Zahlen abrutscht. Wie kann ein Trainer da nur die Augen verschließen und die Gesundheit seines Schützlings so leichtfertig aufs Spiel setzen?

Wachsam sein und aktiv werden!

Gewicht ist eine relative Sache, man darf nicht alle über einen Kamm scheren. Selbstverständlich ist je nach Körpergröße und vor allem bei Kindern je nach Alter das Körpergewicht unterschiedlich zu bewerten. Die übliche Methode, um Gewicht und Körpergröße in Relation zueinander zu bringen, ist der Body-Mass-Index (BMI): Man berechnet ihn, indem man das Körpergewicht (in Kilogramm) durch das Quadrat der Körpergröße (in Metern) teilt: Gewicht / Größe2. Für Erwachsene gelten Werte zwischen 18,5 und 25 als normalgewichtig. Um bei Kindern den BMI altersgerecht interpretieren zu können, hat die Weltgesundheitsorganisation diese Charts (Mädchen | Jungen) herausgegeben. Außerdem wird von Experten www.mybmi.de zur Berechnung sowie Beurteilung des BMIs und vor allem dessen Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen empfohlen.

Trainer, Funktionäre, Partner, Freunde: Alle stehen gleichermaßen in der Verantwortung, aufmerksam und wachsam zu sein und lieber zu früh als zu spät aktiv zu werden und die Bezugspersonen der Betroffenen anzusprechen, damit sie bewusst auf das Kind achten.

Viel zu viele wissen viel zu wenig über Essstörungen. Lebenstedt, Bußmann und Platen haben Checklisten erarbeitet, die Trainern beim Erkennen von anorektischen (und bulimischen) Verhaltensweisen helfen sollen und geben Ratschläge im Umgang mit dem Thema. Diese Seiten sollten eigentlich in jeder Sporthalle aushängen und ganz oben im Ordner jedes Trainers abgeheftet sein.

Selbst wenn die Magersucht dann doch irgendwann erkannt wird, ignoriert sie das erfolgsfixierte sportliche Umfeld oft und schaut weg statt sie zu akzeptieren und entsprechend zu handeln. Niemand will sich eingestehen, eventuell die Krankheit mitausgelöst zu haben. So eine Situation überfordert viele. „Einfach wieder ein bisschen mehr essen und dann mit Volldampf weitertrainieren“ funktioniert nicht – abgesehen davon, dass es aufgrund der psychischen Dimension der Krankheit damit längst nicht getan wäre.

Das Präsidium des DSAB betont angesichts aktueller Fälle, dass es sich seiner Schutzfunktion gegenüber den Aktiven bewusst ist und verantwortungsvoll mit dem Thema umgeht. Hoffentlich! International hört man von einem Kampf gegen Magersucht in der Sportakrobatik nichts. Zugegeben: Der Umgang mit Essstörungen ist aus Sicht eines Verbandes heikel, das zeigt ein Blick über den Tellerrand: Die Skispringer – ebenfalls Vertreter einer Risikosportart, denn leicht fliegt eben weit – haben vor einigen Jahren in ihrem Regelwerk den BMI von 18,5 als Minimalgewicht festgeschrieben. Die Konsequenz war allerdings auch, dass sich zahlreiche normalgewichtige Athleten auf diesen Wert herunterhungerten, weil der neu eingeführte Minimalwert plötzlich zum Richtwert wurde.

Eltern, Funktionäre, Partner und Freunde müssen sensibel sein! Aber es wird auch beim Thema Magersucht vor allem die Aufgabe des Trainers bleiben, die Gesundheit seines Schützlings über den Erfolg zu stellen.

 

Leseempfehlung: Marion Lebenstedt, Gaby Bußmann und Petra Platen (2004): Ess-Störungen im Leistungssport. Ein Leitfaden für Athlet/innen, Trainer/innen, Eltern und Betreuer/innen

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Comments (19)

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  1. sportler sagt:

    @observer
    Ebersbach macht nichts mit ihren Sportlern. Der größte Teil ist ganz normal und hat eine echt gute Figur. Ausnahmen gibt es, aber das ist von Geburt an schon so bedingt. In Ebersbach gibt es weder Ernährungspläne noch Ernährungsberater und die Sportler werden auch nicht zum hungern gezwungen. Wie viel sie essen wollen, entscheiden die Sportler selbst. Eher achtet die Trainerin darauf, dass sie genug essen.
    Ich finde es einfach eine Schande wie Leute, die wahrscheinlich noch nie mit jemandem aus Ebersbach gesprochen haben, sowas behaupten können.

  2. maria sagt:

    @obsever… also man sollte eigentlich sehr vorsichtig mit solchen Unterstellungen sein… die frage ist vielleicht was für ein Problem du mit den Ebersbachern hast..?…

  3. @observer sagt:

    Was soll denn das jetzt bitte?Unverschämt so eine Frage!

  4. observer sagt:

    Zu diesem Thema wuerde ich wirklich mal gerne wissen was Ebersbach mit seinen Sportlern macht…

  5. Fan sagt:

    Ja es ist schlimm was mit den Obermännern gemacht wird. Hallo wacht endlich auf und schaut euch die kleinen hungrigen Kleinen an . Oft haben sie ja schon Angst was zu essen das sie nicht zunehmen :(((((((

  6. jaaaaa sagt:

    genau „bea“ ! Das sehe ich auch so…
    Vorallem bietet uns diese Plattform doch eine Möglichkeit Vereine und Trainer anzusprechen und zu diskutieren was gut für die Sportler ist und was nicht..

    Also was meint ihr zu der Debatte:
    was ist gut für die Sportler?-
    Wiegen oder nicht?

  7. bea sagt:

    Schade und traurig, dass die WM Nominierung, auf die man durch seine Kommentare sowieso keinen Einfluss haben wird, mehr Aufmerksamkeit bekommen als der meiner Vorgängerin verfasste Kommentar …

  8. ...... sagt:

    Fast drei Jahre nach Veröffentlichung dieses Artikels möchte ich mich dazu äußern, da es leider leider immer aktuell sein wird…..

    Ich finde es unmöglich und es gehört den Vereinen und Trainern verboten ihre Schützlunge regelmäßig und überhaupt zu wiegen!!!! Ich höre das so oft und muss es selbst auch durch machen.
    Sicher ist im Hochleistungssport Sportakrobatik bei den Oberfrauen das Gewicht von Bedeutung,aber ist man erfolgreich sorgt man da schon von selbst für.
    Doch das wiegen im Training am besten noch „öffentlich“ übt mehr Druck auf den Sportler aus als man sich vorstellen kann,auch wenn vielleicht kein Druck vom Trainer ausgeht. Man kann sich nicht denken was in den Köpfen dann vorgeht…
    Das muss nicht sein!!
    Bei uns wird dann immer gesagt es sei ja nur um zu sehen welche Formationen gut zusammen passen würden ect.
    Ja und?! Das gefühl für den Sportler auf die Waage gestellt zu werden ist trotzdem schlimm und „gefährlich“ egal unter welchem Vorwand es gemacht wird!!!!

    Bitte Trainer hört auf damit
    Sonst muss es nur einmal im Kopf klick machen und dann haben wir eine weitere Sportlerin die wegen Untergewicht aufhören muss

    Macht den ersten schritt um das zu verhindern und unterlasst das „wiegen“

  9. Wolfsberg sagt:

    [quote name=“ich“]Seit ungefähr dem Jahr 2000 müssten wir jedes Jahr vom Verein aus zum Sportarzt zur allgemeinen Untersuchung. Pflicht, wenn man bei den Deutschen Meisterschaften starten möchte. Die Termine werden von unseren Trainiern besorgt, ob das heute allerdings immernoch so ist, das weiß ich nicht.[/quote]

    … das ist eine Kann-Regelung, kein Muss.

  10. Wolfsberg sagt:

    Vielleicht müssen wirklich konkret Namen genannt werden, damit sich endlich etwas tut zum Wohle der Mädchen, die offensichtlich selbst nicht – und auch die Eltern nicht, die Vereine noch viel weniger… – dazu in der Lage sind.
    Was nutzt mir hier die schriftliche Einsicht, wenn es nicht geändert wird und statt dessen vermutlich wieder eine Flut von Neidereien und Beleidigungen kommt?
    Gesundheit geht über alles – und Sportakrobatik kann, so schade es ist, eben auch nicht alles sein im Leben.

    Vielleicht ein bisschen provokant… möge sich eine Debatte daraus ergeben.

  11. ich sagt:

    Seit ungefähr dem Jahr 2000 müssten wir jedes Jahr vom Verein aus zum Sportarzt zur allgemeinen Untersuchung. Pflicht, wenn man bei den Deutschen Meisterschaften starten möchte. Die Termine werden von unseren Trainiern besorgt, ob das heute allerdings immernoch so ist, das weiß ich nicht.

  12. Peter sagt:

    Lieber Basti,
    toller Artikel! Mutig, offen, kritisch.
    Ich habe mit meinem Hausarzt (zugleich Sport- und Kinderarzt) vor kurzem über den Sport meiner Tochter gesprochen und werde nun wieder einen komplett-Check mit ihr machen.

    Der Arzt meinte, dass es bei anderen Leistungssportlern üblich, wenn nicht gar gefordert ist, einmal im Jahr ein sportärztliches Attest zu erstellen und auch bei den Trainern vorzulegen.

    Da hat „Akro-Zicke“ schon recht – ich finde das gut und werde es so machen, selbst wenn es vom Verein nicht gefordert wird. Hier sind wir als verantwortliche Eltern gefragt! Übertriebener Ehrgeiz ist hier fehl am Platz, wenn es um die Gesundhet geht. Falls aber Eltern über ihren Leistungsanspruch die Gesundheit der Kinder aus dem Auge verlieren, wäre es gut, wenn hier strengere Forderungen der Vereine oder des Sportverbandes solche Atteste vorschreiben, um das Wohlergehen der Kinder sicherzustellen.

    Danke, dass Du das Thema ansprichst!

  13. Akro-Zicke sagt:

    Eine regelmäßige sportmedizinische Untersuchung wäre so ein Punkt, den der DSAB halt wirklich vorschreiben und vor allem nachprüfen müsste, wenn er schon von Verantwortung redet. Vielleicht tut er das ja sogar, dann kann ich mich aber über manche Ärzte nur wundern.

  14. Ralph Soederberg sagt:

    Eigentlich unverständlich eine solche Entwicklung. Selbst wenn aus übertriebenem Ehrgeiz und Profilierungssucht die Eltern und Trainer Ihrer Verantwortung nicht nachkommen, sollten doch durch regelmäßige medizinische Untersuchungen derartige Tendenzen frühzeitig erkennbar sein. Bleibt die Frage:Gibt es diese med. Betreuung und wenn ja für wen? Für Bundeskader gibt es wohl eine solche Regelung zur sportmed.Betreuung,ob sie denn auch korrekt genutzt wird wissen nur die Betroffenen.

  15. Marion sagt:

    ich schließe mich voll und ganz meinen vorrednern an. Meinen respekt an sebastian, der sich diesem heiklen thema mal ausführlich angenommen hat. Ich finde auch, dass es bei den senioren doch schon sehr auffällt. Auch in anderen altersklassen zeichnet sich dieser trend schon ab, nur wird es vermutlich hier nicht so früh bemerkt. Eine 12-jährige sportlerin die zu wenig wiegt, fällt eben nicht so auf, wie eine 15 oder 16-jährige. Hier reicht es meiner meinung nach eben nicht, wenn der verband NUR darauf hinweist und ansonsten auf die vernunft der trainer oder eltern hofft. Vielmehr müsste eventuell über ein wiegen vor dem wettkampf, ähnlich dem vermessen der sportler, nachgedacht werden. Der ursprung dieses problems entsteht meines erachtens bereits schon mit dem altersunterschied von 6 jahren. Und erst wenn der obermann 13 wird, ist dieser altersunterschied nicht mehr relevant. Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass der untermann schon 19 oder älter ist (wenn die einheit schon länger zusammen turnt). Der untermann wird somit nicht mehr größer, aber der obermann befindet sich dann mitten in der pubertät. Denkbar schlechte voraussetzungen. Doch leider muss sich deutschland hier den internationalen regeln anpassen.

  16. Paula sagt:

    Deutschland hat derzeit einige sehr gute Senjoreneinheiten. Leider glaube ich nicht das der DSAB diesbezüglich auf die Gesundheit seiner Sportler achtet sonder eher froh ist das er euch bei den Senjoren was bieten kann. Wenn man sich die Sportlerinnen anschaut befürchtet man das mindestens 3 bis 4 Einheiten der Nationalmannschaft mit diesem Problem zu kämpfen haben.

  17. ich sagt:

    Sehr schöner informativer Beitrag !!

    Leider war ich selbst auch davon betroffen. Der eigene Ehrgeiz wird einem viel schneller in der Hinsicht zum Verhängnis.

    Schon in den letzten 2 Jahren habe ich gehofft, dass sich mal Jemand traut dieses Thema anzusprechen. Bei einigen Sportlern/ Innen schaut man auch gerne jetzt zweimal hin – nicht so ganz sicher, ob das noch gesund ist oder nicht.

    Ein guter Trainer sollte seine Sportlerin oder sein Sportler vorerst vom Wettkampfsport zurückziehen – der Gesundheit zu Liebe.

  18. Inge sagt:

    Lieber Sebastian,
    vor einigen Monaten hatte ich angeregt, dass Thema aufzugreifen. Auch in unserem Umfeld (Sport und Schule) kennenn wir unmittelbar betroffene Mädels. Freut mich sehr, dass Du das Thema aufgreifst und das in einer guten Mischung aus Infos und persönlicher Ansprache. DANKE!

  19. Fabienne sagt:

    Wird Zeit, dass das jemand ausspricht. Tragischerweise ist das Thema Magersucht in letzter Zeit ziemlich oft bei uns in dieser Sportart vertreten 🙁

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