Patzer, Teil 1: Woher sie kommen…

| 31. Januar 2012 | 2 Comments

Adrenalin

„Gewonnen und verloren wird zwischen den Ohren“, ist so ein Spruch vieler Trainer – und sie haben Recht damit! Dieser Zweiteiler widmet sich dem Phänomen der Patzer, um den Einfluss der geistig-emotionalen Haltung auf die sportliche Leistung zu verdeutlichen. Verfasst hat ihn Katrin von der Bey-Löhmann in der Hoffnung, dass vielleicht einige Sportler, Trainer und Eltern wieder zu etwas mehr Gelassenheit zurückkehren. Sie ist Osteopathin und war zuvor Physiotherapeutin mit dem Steckenpferd Neurologie / Hirnorganschäden. Vieles, so betont sie, hat sie im Folgenden vereinfacht – fast plakativ – dargestellt.

Immer wieder dasselbe: Bei vermeintlich einfachen Aktionen, die sonst wie selbstverständlich fehlerfrei ablaufen, geht etwas schief. Ein Fehltritt oder -griff, mit dem nicht zu rechnen war, auf den zuvor niemand auch nur im Traum gekommen wäre: ein echter Patzer. Solche Patzer dürften uns eigentlich nicht unterkommen. Oder doch? Wie menschlich-natürlich – und verzeihlich – sind eigentlich Patzer?

Fehler vs. Patzer

Fehler und Patzer haben vor allem eine Gemeinsamkeit: den Punktabzug. Ansonsten unterscheiden sie sich aber sehr voneinander, auch in ihrer Entstehung.

Wenn ein Fehler bei einem sehr schwierigen Element geschieht, ist die Enttäuschung groß, aber einen nachhaltigen Gesichtsverlust bedeutet dies nicht. Die Enttäuschung drückt sich im Menschen beispielsweise in Trauer und Wut aus – zugleich oder nacheinander, je nach Mensch und Situation. Das kann zunächst in Verunsicherung, schließlich aber auch in den Ehrgeiz zum Bessermachen münden. Denn man kann in der Folge konkret an diesem Element arbeiten: Analysieren, wie der Fehler entstanden ist und bewusst die Aufmerksamkeit erhöhen, um ihn zukünftig zu vermeiden. Man kann dem Element die Zähne zeigen.

Wenn dagegen ein Patzer bei einer an sich gut sitzenden automatisierten Aktion – einem sonst stets gelingenden Element etwa – geschieht, ist das einfach nur peinlich und die Selbstsicherheit bekommt einen kräftigen Nackenschlag versetzt. Denn es ist viel schwerer, die Ursache zu ermitteln. Es scheint keinen greifbaren Grund zu geben: Nichts, das sich analysieren und eliminieren ließe. Die Unsicherheit bleibt bestehen. Dergleichen kann wieder passieren – jederzeit, unvorhersehbar, unvermeidlich. Da ist nichts, dem man die Zähne zeigen könnte. Denn „es“ liegt gestaltlos lauernd in einem unbekannten Hinterhalt…

Stress und Angst machen den Menschen zum Tier!

Große Ziele bedeuten für unsere Sportler viel Arbeit und Durchhaltevermögen. Wer aber viel investiert, hat auch viel zu verlieren – das hinterlässt Spuren: Stress und Angst – zum Beispiel vor der Blamage oder der Enttäuschung. Bewusst, teilbewusst, unterbewusst. Stress und Angst sind aber mehr als nur Gedanken und Gefühle. Es sind Eiweißmoleküle in großer Zahl, die der Körper wegen dieser Gedanken und Gefühle ins Rennen schickt, damit wir gewappnet sind… Dieser Mechanismus ist so alt wie die Menschheit.

Im Wettkampf, wenn ein Wiederholen – ein Wiedergutmachen – ausgeschlossen ist, werden wir Menschen oft wieder zum Urmenschen, zum Tier: Für sehr lange Zeit bewegte sich der Mensch nur dann unter Anstrengung – nämlich mit hohem Energieverbrauch -, wenn es darauf ankam: Zum Beispiel Kampf oder Flucht – wenn es ums Überleben ging. Wache Sinne, Schnelligkeit und Kraft retteten dann das eigene Leben und das Überleben der Sippe. Zum Denken blieb oft keine Zeit.

Die Natur hat daher in eine Art Katalysator, in einen Reaktionsbeschleuniger investiert: Für Gefahrensituationen wurden (durchaus komplexe) Bewegungsabläufe – Kämpfen und Rennen – und dazu nötige Grundvoraussetzungen – Wahrnehmungssteigerung der Sinne, Funktionsänderungen des Kreislaufs und der Atmung etc. – als sofort abrufbare Kompakt-Programme zugänglich gemacht.

Gleichzeitig wurden komplexe Gedächtnis- und Assoziationsleistungen in solchen Situationen blockiert oder in Einzelteilchen zerlegt. Es ist nicht gewiss, weshalb Letzteres geschah. Vermutlich um Kapazitäten zu sparen, um rettende Nahziele – den nächsten Baum etwa – schneller zu erkennen oder um zeitraubende Unschlüssigkeit zu verhindern.

Beides wurde und wird über Hormone, also Botenstoffe, erreicht. Besonders bekannt ist Adrenalin. Die Hormone kursieren im Organismus abhängig von der Gefahrenlage für Minuten oder Tage in unterschiedlicher Konzentration und fördern oder hemmen Körperfunktionen, um den Organismus in die lebensrettende Leistungsfähigkeit zu versetzen.

Kurz: Stress und Angst setzen Hormone frei, welche zwar archaische effektive Automatismen anstoßen, aber das Denken blockieren oder zerstückeln. Damals und heute ebenso.

Ohne Verstand geht’s schneller…

Wir Menschen haben ein sehr leistungsfähiges Gehirn, das sehr spezielle – vermutlich einzigartige – Leistungen vollbringt. Man muss allerdings eingestehen: Die Prozesse unseres Denkens sind im Vergleich zu den Körperreaktionen ausgesprochen langsam. Die „Denkmuskeln“ erscheinen im Vergleich zu den Skelettmuskeln wie eine Schnecke. Deshalb wird das Denken bei Stress und Angst – beim Urmenschen ausgelöst durch Gefahr – blockiert oder zerstückelt. Es soll jetzt einfach, geradeaus und schnell gehen. Sonst ist das Thema wahrscheinlich schon gegessen. Oder gefressen eben. Die Energien und die Informationswege werden anderweitig gebraucht.

Unsere Reaktionen in Flucht und Kampf vollziehen sich vollautomatisch. Der Skelettmuskel agiert, der „Denkmuskel“ hat Sendepause. Obwohl es uns nur selten – hoffentlich nie – geschieht, dass wir um unser Leben laufen müssen – obwohl wir das also nie trainieren: Wenn es darauf ankommt, werden wir schneller und weiter rennen, als wir es je für möglich gehalten hätten. Der Stress ist der Schlüssel, der die Tür zu dieser Fertigkeit öffnet. Der Schalter liegt in unserem Gehirn – in einem archaischen Hirnteil. Allerdings kann unser Gehirn, wenn es darauf ankommt, nicht etwa jedes beliebige erlernte Muster des Langzeitgedächtnisses als Vollautomatismus abrufen – sondern nur jene wenigen Kampf- und Fluchtprogramme aus grauer Vorzeit.

Ein Tiger sitzt im Kampfgericht…

Als wir Menschen unseren Organismus – unser Nervenkostüm – erhielten, war von Sport jeglicher Art noch keine Rede. Heute ist davon die Rede – aber unser Organismus und unser Nervenkostüm ist immer noch weitgehend unverändert. Stress und Angst sind noch immer mit demselben alten Katalysator verknüpft. Natürlich ist uns klar, dass man wegen eines misslungenen Elements nicht aufgefressen wird. Unsere Hormone können aber zwischen den unterschiedlichen Ursachen von Stress und Angst nicht unterscheiden: Ein großes Kampfgericht wird mit einem sprungbereiten Säbelzahntiger gleichgesetzt.

Wenn der Jagdhund die Fährte verliert…

Ein Wurfelement. Es wurde in Einzelabschnitten erlernt und zu einer komplexen Einheit zusammengefügt im Langzeitgedächtnis abgespeichert. Da sich der Gesamtvorgang für unsere trägen „Denkmuskeln“ viel zu schnell vollzieht, muss er ohne Untergliederung durch Wiederholungen trainiert werden. Es soll zu einer Automatisierung kommen. Das Denken schaltet sich erst nachher wieder ein und vergleicht den Ablauf rückschauend mit dem gewünschten Idealablauf. Wenn durch ausreichende Wiederholungen tatsächlich ein (annähernder) Automatismus erreicht wurde, sitzt das Element sehr zuverlässig.

Oder auch nicht. Denn obschon die komplexe Bewegung automatisiert wurde und unter gewohnten Umständen – ohne Angst und Stress – sicher abgespult wird, gehört sie natürlich nicht zu den Kampf- und Fluchtprogrammen, die unter hohem Stress so zuverlässig vollautomatisch durchrattern. Bei entsprechend hoher Konzentration der Stresshormone – zum Beispiel im Wettkampf – geschieht bei allen anderen komplexen Bewegungsabläufen wie unserem Wurfelement leider das Gegenteil: Sie werden wieder in Einzelteile zerpflückt. Das Element wird wieder zur Abfolge von Einzelabschnitten, die aneinandergereiht werden müssen. Unsere „Denkmuskeln“ sind aber zu lahm für derart schnelle Bewegungsabfolgen. Das Gehirn hat keinen Zugriff mehr auf den antrainierten Automatismus. An irgendeiner Stelle des Ablaufs – oft schon zu Beginn – kommt es einfach nicht mehr mit und vom Weg ab: Der Patzer passiert.

Und nun?

Es gibt da also diese Stresshormone – unzählige im Körper ausschwärmende Lebensretter -, deren Wirkung wir uns nicht entziehen können. Was sie beim Wettkampf anrichten können und wie, haben wir kurz beleuchtet. Stellt sich die Frage: Wie könnte man dem vorbeugen?

Mehr dazu demnächst in diesem Kino: Patzer, Teil 2: Don’t worry, be happy…

Die noch etwas ausführlichere Fassung dieses ersten Teils gibt es auf der Webseite des Fördervereins Freunde der Sportakrobatik e.V. des Dresdner SC.

Literatur (Auswahl):

– Kirschbaum, Clemens (2001): Das Stresshormon Cortisol – ein Bindeglied zwischen Psyche und Soma? Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
– Ritter, Adrian (2005): Das Gedächtnis im Stress. Interview mit Prof. Dominique de Quervain. Universität Zürich.
– Rüschemeyer, Georg (2011): Eben noch gewusst… Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 50/2011.

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Comments (2)

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  1. Noélle sagt:

    Ja, das kenne ich auch. Wie bei mir in Florida am Freedom Cup 2003, als ich ein individuelles Element versaut hab, was ich im Schlaf beherrschte! 🙂 Aber darüber könnte ich mich manchmal immer noch ärgern!:D Der Bericht ist super!

  2. Kelly sagt:

    Erinnert mich seeeehr an meinen super peinlichen Patzer beim Acro Cup 2009! Heute kann ich drüber lachen, damals hätte ich mir gewünscht, dass ich im Erdboden versinke! Toller Bericht 🙂

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