Die Kleiderordnung der Sportakrobatik

| 17. Mai 2010 | 14 Comments

Das haut mich um: Zu viel Haut!

Die Deutsche Jugendmeisterschaft am Wochenende in Mainz brachte zwei Themen auf die Tagesordnung: Ganz erwartungsgemäß ist das einmal die Nominierung der deutschen Nationalmannschaft zur Jugend-WM. Völlig unerwartet hingegen diskutiert seit Samstag die gesamte nationale Sportakrobatik auch über Wettkampfanzüge. Der neuen alten Kleiderordnung widmet sich dieser Beitrag.

Die Fakten

Der Code of Points 2009-2012 regelt in Artikel 39, was getragen werden darf. Das klingt so. Die deutsche Übersetzung (nur als unverbindliche Hilfestellung gedacht) klingt dann so. Mir ist nicht bekannt, dass es dazu irgendwelche Ergänzungen oder Erläuterung in den Newslettern der FIG gegeben hätte, also müsste es sich bei dem englischen Dokument um die aktuell gültigen Regeln handeln. Brisant sind seit Samstag insbesondere die Absätze 8, 9, 10, 11 und 13.

Problematisch ist, dass sowohl das englische Original als auch erst recht die deutsche Übersetzung so schwammig und unklar formuliert sind, dass sie sehr weit ausgelegt werden können und jede Menge Fragen offen bleiben.

Ich verstehe diese Absätze so:
– Unterwäsche, Rumpf, Bauchnabel und andere private Körperteile darf man nicht sehen (aufgrund von Design oder Schnitt) bzw. durchsehen (aufgrund von transparentem Stoff) können.
— Transparenter Stoff an diesen Stellen ist dennoch erlaubt, wenn man einen „body stocking“ – also noch einen Anzug (Body) darunter – trägt.
— Großflächiger hautfarbener Stoff an diesen Stellen ist nur verboten, wenn dadurch der Anschein oder vergleichbare Effekte von Nacktheit entstehen.
– An Körperstellen, die nicht bedeckt sein müssen, sind transparente und hautfarbene Stoffe erlaubt.
– Der Anzug darf vorn nicht tiefer als bis zum halben Brustbein ausgeschnitten sein. Hinten maximal so tief, dass er das Tragen angemessener Unterwäsche nicht verhindert.
— Das gilt für echte Ausschnitte (gar kein Stoff) und falsche Ausschnitte (transparenter oder hautfarbener Stoff).
– Themen aus Theater und Religion dürfen nicht aufgegriffen werden und der Stil des Anzugs darf auch nicht an Kabarett, nationaltypische Kleidung, Bikini oder Badeanzug erinnern. Bilder und Charakterkleidung sind verboten.

Dazu möchte ich fragen: Wie groß ist großflächig? Wer legt fest, wann der Anschein von Nacktheit entsteht? Wann verhindert ein Ausschnitt das Tragen angemessener Unterwäsche? Ich bin nun kein Fachmann, habe mir aber sagen lassen, dass es durchaus BHs gibt, die ohne Schulterträger funktionieren oder bei denen diese Träger transparent sind. Man würde sie also nicht sehen bzw. sieht sie nicht, wenn die Schulterpartien des Anzugs in hautfarbenem oder gar transparentem Stoff gehalten sind.
Und in Bezug auf Bilder und Charakterkleidung: Ist eine aufgenähte Blume schon ein Bild? Ist eine mit Pailletten nachgeahmte Kontur einer Krawatte oder eines Revers schon eine Charakterkleidung?

Die plötzliche Umsetzung

Am Samstagabend gab Bernd Hegele in Mainz bekannt, dass schon ab Sonntag rigoros die Richtlinien der internationalen Kleiderordnung angewandt werden. Bisher hatte das in Deutschland niemanden gestört: Schlimmstenfalls wurde einem nach dem Wettkampf mit erhobenem Zeigefinger gesagt: „Du, Du, Du, international darfst Du diesen Anzug aber nicht tragen, gell!“ Für viele stand ein Start an einer EM oder WM aber sowieso nie zur Debatte. Ab jetzt gibt es vom Hauptkampfrichter zwischen drei und fünf Zehntel Abzug. Das ist in der Sportakrobatik eine Welt!

Gut, es ist grundsätzlich wenig dagegen einzuwenden, dass die geltenden internationalen Regeln auch in Deutschland umgesetzt werden. Gegen das Procedere allerdings schon: Solche Maßnahmen brauchen eine angemessene Vorlaufzeit. Warum konnte das nicht rechtzeitig bekannt gegeben werden oder erst zur nächsten Deutschen Meisterschaft in Kraft treten? So hat man nur Sportler und Trainer schwer verunsichert in einem Moment, in dem eigentlich volle Konzentration auf den Wettkampf sinnvoll gewesen wäre.

Am Sonntag brach in Mainz ein junges Mädchen weinend in ihrem wunderschönen Wettkampfdress zusammen, als ihr eröffnet wurde, dass dieser einen zu tiefen hautfarbenen Ausschnitt habe und es dafür Abzüge geben würde. Ihr Traum vom Deutschen Meistertitel schien geplatzt noch bevor sie überhaupt auf der Matte stand. In letzter Sekunde konnte sie sich dann zwar doch noch einen anderen, vergleichsweise allerdings richtig langweiligen Anzug ausleihen und so die Strafpunkte vermeiden.

Die Auslegung (national)

Ich habe am Sonntag immer noch viele Anzüge gesehen, die meiner Meinung nach nicht den Regeln entsprechen: Da waren Blumen aufgenäht, Krawatten, Revers und Knöpfe imitiert. Aber (fast) nirgends gab es den angedrohten bzw. angekündigten Abzug. Warum??? Dass man sich an die internationalen Regeln hält (meinetwegen auch in der strengsten zulässigen Auslegung), macht Sinn, aber dann doch bitte an alle wenigstens innerhalb der Kleiderordnung. Warum wird ausgerechnet den Richtlinien zu den hautfarbenen Stoffen plötzlich so viel Beachtung geschenkt?

Die Auslegung (international)

Zur Frage, wie diese Richtlinien international gehandhabt werden, stelle ich einfach ein paar Bilder von der letzten Europameisterschaft zusammen. Meines Wissens wurde keiner dieser Anzüge mit einem Abzug bestraft.

Wettkampfanzüge bei der EM 2009

Die Sinnhaftigkeit

Aber ganz grundsätzlich darf man sich schon fragen, wie sinnvoll diese Kleiderordnung der FIG eigentlich ist. Eine der Stärken der Sportakrobatik ist doch ohne Zweifel eine gewisse Nähe zur Show. Und damit spricht sie eigentlich Medienbedürfnisse an: Kraft, Grazie und Ästhetik, verbunden mit attraktiven und phantasievollen Wettkampfanzügen wären doch ohne Zweifel eine Kombination, mit der die bislang wenig an dieser Sportart interessierten Medien, allen voran das Fernsehen, am ehesten gelockt werden könnten.

Stattdessen der Rückzug auf Prüderie und Strenge! Ein kurzsichtiger Herr aus fünfzehn Metern Abstand könnte ja den hautfarbenen Stoff über Ausschnitt und Armen eines hübschen Mädchens nicht als solchen erkennen und sich darüber zu sehr echauffieren. Oh, wie schlimm!

Vielleicht spielt das im spanischen Süden oder im amerikanischen Mittelwesten eine moralische Rolle, aber sind das wirklich die Probleme unseres Sports hierzulande? Hätte der Wettkampf in Mainz darunter gelitten? Sollen wir vielleicht sogar zurück zum Stil der 50er Jahre: weißes T-Shirt und schwarze Pumpsporthose, möglichst für alle! Ein bisschen wundern muss man sich über solche Maßnahmen schon…

Tags: ,

Category: Deutsche Meisterschaften, Regelwerk

Comments (14)

Trackback URL | Comments RSS Feed

  1. Sarah sagt:

    Danke für den tollen Beitrag! Dem ist einfach nichts mehr hinzuzufügen. Ich selbst habe es schon erlebt, dass man auf einer Meisterschaft steht, einen tollen neuen Anzug im Gepäck und kurz vor der Übung gesagt bekommt „mit dem Anzug bekommt ihr auf jeden Fall Abzug, so könnt ihr nicht starten“.
    Es bricht eine Welt zusammen, woher soll man so schnell einen anderen Anzug bekommen? Und auch noch den gleichen,für 3 Leute, in den passenden Größen.
    Ich frage mich: wieso ist soll es verboten sein, beim Sport gut aussehen zu wollen, und sich wie für eine Show hübsch zu machen? 🙁

  2. Julia sagt:

    Ich finde es nicht gut, weil bei dieser Sportart der Anzug nicht soviel aussagen sollte, wie die Leistungen die manche bringen!

  3. Dominik sagt:

    Die Sportart Sportakrobatik ist schon seit vielen Jahren einer gewissen Willkür unterworfen. Die Regeln sind einfach so unbekannt bzw. so schwammig formuliert, dass sie denen, die eine gewissen Entscheidungsgewalt innehaben, in die Karten spielen. Warum? Weil sie sie zu ihren Gunsten auslegen können und damit aktiv ins Wettkampfgeschehen eingreifen können. Und DAS darf einfach nicht sein!

    Als „kleines“ Nebenprodukt macht es auch die Sportart als Ganze für Zuschauer unattraktiv, weil man Wertungen und deren Findung laut Reglement nicht nachvollziehen kann. So sehr ich es mir wünschen würde, aber Akro wird niemals olympisch werden.

  4. Marie-Luise sagt:

    Bezeichnend für den Schwachsinn der Bekleidungsregel daß sich sogar die Kampfrichter vor dieser Maßnahme deutlich distanzieren.

  5. Anne sagt:

    Nur mal als kleine Anmerkung, es war nicht die Entscheidung der Kampfgerichte.
    Das haben andere entschieden.

  6. Steffen sagt:

    [quote name=“Marion K.“]Grundsätzlich würde ich sagen, dass alles irgendwo auch Grenzen haben muss. Es gibt nun mal Regeln, die eingehalten werden müssen. Schließlich traut sich ja auch niemand absichtlich z.B. mit Ohrringen auf die Matte. Meiner Ansicht nach, ist diese Kleiderordnung schon ein wenig kleinlich. Dennoch können wir es nicht ändern und sollten uns deshalb daran halten. Möglicherweise wollten die Verantwortlichen am vergangenen Wochenende letztlich nur dafür sorgen, dass für die WM alle gut gerüstet sind. Schließlich weiss niemand, ob es dort nicht auch unerwartete Abzüge gibt. Irgendwann ist immer das erste Mal. Ergo: Lieber vorbereitet sein und alle negativen Überraschungen ausgeschlossen haben.[/quote]
    Aber doch nicht mitten im Wettkampf!!! Vor oder nach der Saison, ja, aber nicht wärend einer Deutschen Meisterschaft. Ich möchte Marion mal sehen, wenn Sie sich gerade einen neuen Anzug gekauft hätte und ihn jetzt im Training anziehen müsste.
    Und die „Grenzen“ wurden ja nun wirklich nicht überschritten. Solche Aktionen seitens des Kampfgerichts führen höchstens dazu, noch mal gründlich sein Engagement für diese Sportart zu überdenken. Das ist meine Meinung…

  7. Marion K. sagt:

    Grundsätzlich würde ich sagen, dass alles irgendwo auch Grenzen haben muss. Es gibt nun mal Regeln, die eingehalten werden müssen. Schließlich traut sich ja auch niemand absichtlich z.B. mit Ohrringen auf die Matte. Meiner Ansicht nach, ist diese Kleiderordnung schon ein wenig kleinlich. Dennoch können wir es nicht ändern und sollten uns deshalb daran halten. Möglicherweise wollten die Verantwortlichen am vergangenen Wochenende letztlich nur dafür sorgen, dass für die WM alle gut gerüstet sind. Schließlich weiss niemand, ob es dort nicht auch unerwartete Abzüge gibt. Irgendwann ist immer das erste Mal. Ergo: Lieber vorbereitet sein und alle negativen Überraschungen ausgeschlossen haben.

  8. Soederberg sagt:

    Großartiger Beitrag, dem man nichts weiter hinzufügen braucht. Ich bin davon überzeugt,dass ihn auch die Verantwortlichen im Verband lesen. Ich habe ebenfalls, wie Du sofort nach Beginn der Diskussion mir verschiedene Anzüge im Internet zB. von Spelthorn oder den Russen beim Acro-Cup in Albershausen angeschaut und kann Deine Darstellung nur unterstützen.Auch den Hinweis auf den Showcharakter unserer Sportart und der gerade damit verbundenen zunehmenden Atraktivität und erhöhten Aufmerksamkeit beim Publikum und Medien!Das bietet doch eher große Chancen für eine höhere Akzeptanz und irgendwann Anerkennung als olympische Sportart. Denn wir wissen doch alle, das auch eine erfolgreiche Vermarktungsmöglichkeit die Chancen für eine olympische Anerkennung eine „gewisse“ Rolle spielen.

  9. Lothar Körber sagt:

    Hallo Sebastian,
    vielen Dank für diesen tollen Bericht!Meine Laura hing total an Ihrem Wettkampfdress.Ein ganzes Wochenende hatte Sie mit Ihren Partnerinnen Corinna und Nicole Abele daran gearbeitet bis dieser Dress endgültig perfekt war!Zu allem Überfluss hatte sich Corinna Abele (Ihre Partnerin)vor drei Wochen im Training schwer verletzt und Laura war eh schon brutal angeschlagen von der ganzen Situation und dann kommt Sie am Freitag nach Mainz mit diesem Dress zu dem Sie einen ganz ganz besonderen Bezug hatte und mit dem Sie zwei Wochen vorher auch noch bei der Süddeutschen Meisterschaft gestartet war und dann sowas!Man muss sich mal da in einen Sportler das zu dem auch noch Kind ist hinein denken!Einer solchen Regelung bedarf es einer klaren Warnung vor oder nach dem Wettkampf seitens der Wettkampfleitung aber nicht mitten drin.Eines sei noch gesagt vielen Dank an den Dresdner Sportclub für die super schnelle Aushilfe eines Wettkampfdresses sonst hätte Laura gar nicht starten können.Und vielen Dank an Lauras Trainerin Elfriede Stoll die es trotz der grossen Aufregung vor Lauras Start geschafft hat Sie mit aller Ihrer Routine zur Deutschen Meisterschaft zu führen!

  10. Akrofan sagt:

    Jana geb ich recht,bei uns müssen die Mädels schon seit Jahren unter den Anzügen mit viel Netz Unteranzüge tragen…zwar nicht sehr bequem,aber dem „Äußeren“schadets nicht!Was ich aber nicht verstehe,was die Blumen den Angügen getan haben…

  11. Jana sagt:

    Ist es aber nicht auch fair, denen gegenüber, die sich von vornherein an das Reglement halten und dementsprechend ihre Anzüge fertigen lassen. Immerhin gibt es diese Festlegung nicht erst seit gestern! Mir fällt auch immer wieder auf, dass der Punkt 21 „jegliches Make- up muss unauffällig sein“ von vielen nicht beachtet wird. So seh ich immer wieder kleine Mädchen, bei denen man vor Lidschatten, Kajal und Wimperntusche kaum noch die Augen erkennen kann. Sollten wir in unserer Sportart auf der Matte nicht durch Leistung glänzen???

  12. Tanja sagt:

    ICh bin der gleichen MEinung !
    Es ist soooooo schade denn überall wird davon gesprochen Akrobatik muss für die Öffentlichkeit interessanter und attraktiver gemacht werden damit wir ein anderes Ansehen genießen … allerdings machen die „Kostüme“ bzw. die Trikots sehr viel aus was die Attraktivität angeht. WEnn wir dann alle schwarze Hosen und weisse T-shirts tragen dann kommen nicht mehr 50 Zuschauer in die Halle sondern nur noch 10 🙁
    Darüber sollte man vielleicht auch mal nachdenken !!!

  13. Annette sagt:

    Dieser Beitrag ist wie so viele auf deiner Seite sowohl inhaltlich als auch sprachlich sensationell gut. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

  14. Regine Schreier sagt:

    Toller Beitrag!
    Wir schließen uns der Meinung an!

Schreibe einen Kommentar zu Akrofan Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert